Die Seiltänzerin...
- Held Stories
- 30. Jan. 2019
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 17. Apr. 2023
WOW! Da ist sie! 32 Jahre jung, hübsch, gesund, sportlich, humorvoll, gebildet (die Frau hat schließlich nicht nur Betriebswirtschaftslehre studiert, sondern wurde darin auch noch promoviert).
Frau Dr. BWL ist mit einem unglaublichen Mann zusammen, lebt in einer der schönsten Städte Deutschlands (Moin Moin Hamburg), hat eine liebevolle Familie und klasse Freunde, mit denen sie über alles reden kann. Sie genießt die Natur in vollen Zügen, verbiegt sich beim Yoga in alle Richtungen und hat das Meditieren für sich entdeckt. Namaste, du klasse Frau! Namaste!
Diese meditierende Powerfrau weiß ganz genau, wie sie mit betriebswirtschaftlichen Kosten-Nutzen-Analysen und dem Upward-Facing Dog (diese Yoga-Haltung gibt es tatsächlich) aus dem tiefen Tal der Krisen und Herausforderungen emporsteigt, oder?
WRONG! Auch sie hat schlechte Tage und nicht immer helfen Kundalini-Atemtechniken, um innere Zweifel und Ängste weg zu pusten. Da kann die Sonne im hohen Norden mit aller Stärke scheinen, aber in ihr ist miserables Hamburger Shiiit-Wetter mit aufbrausendem Wind, dicken Wolken und Regen von allen Seiten.
Manchmal hilft vielleicht ein motivierender Podcast oder ein Buch, das ihr sagt, dass sie einfach wundervoll ist. Und das stimmt wahrhaftig, wir alle sind wirklich wundervoll, auf unsere ganz eigene, einzigartige Art. Auch diese Frau.
Manchmal hilft es vielleicht auch, wenn sie fünf Dinge aufschreibt, für die sie dankbar ist. Und wir alle finden mehr als fünf Dinge in unserem Leben, für die wir jeden Tag dankbar sein können. Auch diese Frau.
Aber manchmal wollen wir einfach nur die Decke über den Kopf ziehen, nicht über die eigenen Baustellen im Leben nachdenken und in eine andere Welt untertauchen. Wir wollen nach New York verschwinden und mit unseren Friends darüber philosophieren, ob Rachel und Ross nun wirklich eine Beziehungspause hatten. Wir möchten in die Welt von Ted Mosby eintauchen und bei einem Bier im MacLaren’s Pub endlich erfahren, wie er nun die Mutter seiner Kinder kennengelernt hat. Und manchmal wollen wir einfach mit Carrie und ihren Mädels über ihre schrägen Sex-Abenteuer im wilden Big Apple lachen.
Wir alle haben solche Tage. Auch diejenigen Frauen, bei denen es von außen betrachtet so scheint als hätten sie alles, hinterfragen sich und Facetten ihres Lebens.
Sei es die Frage, ob sie gute Mütter sind. Besonders in den Momenten, wenn ihre süßen Sprösslinge gerade im Supermarkt auf dem Boden liegen, wild in alle Richtungen strampeln und schreien als gäbe es keinen Morgen mehr.
Sei es die Frage, ob ihre Jobs sie glücklich machen. Besonders wenn sie sich morgens aus ihrem Bett kämpfen und sich jede Zelle ihres Körpers dagegen sträubt, die nächsten acht Stunden Excel-Kennzahlen mit SVERWEISEN zu berechnen.
Und irgendwo zwischen dem Management des prallen Terminkalenders ihrer ausgebuchten Kinder und dem regelmäßigen Stillen ihrer schreienden Vorgesetzten vergessen auch die Powerfrauen, dass es sie selbst ja auch noch gibt. Nur sie.
Wir sind die Artistinnen der neuen Zeit. Auf unserem schwankenden Seil versuchen wir zu unserem Ziel zu balancieren und vergessen dabei vollkommen, die Aussicht zu genießen. Wir jonglieren unsere Bälle des Alltags gekonnt in der Luft, auch diejenigen die uns noch zusätzlich in unseren legendären Lebensauftritt hineingeworfen werden. Das gelingt uns fantastisch. Wir bekommen Applaus, gar Standing Ovations! Das Publikum liebt uns. Nein, es bewundert uns!
Aber was passiert, wenn wir einmal kurz innehalten und uns tatsächlich fragen, warum wir eigentlich Artistinnen geworden sind? War das unser Traum? Das Leben ist kein Ponyhof. Das haben wir schon als kleine Kinder gelernt. Aber ist das Leben ein Zirkus?
Auch Frau Dr. BWL hat sich irgendwann gefragt und fragt es sich tatsächlich immer noch: „Bin ich nur Frau Dr. BWL? Wer bin ich wirklich und was will ich wirklich?“
Sie ist eine erstaunliche Gattung der Seiltänzer. Ihr Studium wurde von einem großen Durcheinander und der Erfahrung des Scheiterns beherrscht, besonders durch ihr Lieblingsfach Statistik. So schrieb sie immer und immer und immer wieder die gleiche Statistik-Klausur, obwohl die Wahrscheinlichkeit des Eintretens dieses Falls für den durchschnittlichen Studierenden bei nur 10 Prozent lag. Dies empörte die ernsten Professoren, die ihr empfahlen ein anderes Studium zu wählen, da ihr diese Sache mit Zahlen ja wirklich nicht so gut läge.
Doch sie gab nicht auf, leckte ihre Wunden und absolvierte ihr Studium mit Schweiß und Stolz. Und um es wirklich allen, besonders ihrem eigenen Ego zu zeigen, promovierte sie sogar noch und machte tagtäglich nichts anderes als sexy Statistik. Sie ist eine dieser Seiltänzerinnen, die extra noch einen doppelten Salto in den höchsten Höhen hinlegt, um sich dann vom tosenden Beifall des Publikums küssen zu lassen.
Man kann sie als wahre Kämpferin bezeichnen. Man kann ihr wirklich gratulieren, da sie zielstrebig alle Steine in ihrem Weg mit voller Bravour und dem größten Durchhaltevermögen weg gekickt hat. Und natürlich hat sie diese Zeit stärker gemacht und sie konnte so viel über sich selbst erfahren. Diese Erfahrung nimmt ihr keiner, diese Erfahrung prägt sie. Diese Erfahrung ist Lebenserfahrung. Aber wann wird aus Spaß eher Qual an der Sache? Wann wird aus Zielstrebigkeit eher Verbissenheit? Wann wird aus einer inspirierenden Show eher ein routinierter Auftritt?
Eine perfekte Seiltänzerin zeichnet sich nicht dadurch aus, dass sie mehrmals aus hoher Höhe gefallen ist und sich beim Einstudieren der Show vollkommen ausgelaugt hat.
Es gibt einfach einen Unterschied, ob wir bei unserem Seiltanz auf unsere Füße starren, das Seil während unseres Balanceaktes nicht aus dem Blick verlieren und verbissen an unserem vierfachen Salto arbeiten. Oder ob wir, mit einem entspannten Blick nach vorne gerichtet, über das Seil hüpfen, zwischendurch auch einmal Halt machen, langsam wieder die Freude an diesem wilden Tanz finden und wir dem Publikum ein inspirierendes Lächeln während unseres Auftritts schenken können.
Gewiss, wir brauchen Ziele in unserem Leben. Wir können aber auch pure Freude verspüren, während wir diese Ziele erreichen. Und wir können dabei jeden Tag genießen, an dem wir motiviert den Sinn unseres Lebens (wieder)entdecken.
Auch Frau Dr. BWL muss dies noch lernen. Schließlich hat sie sich über Jahre hinweg eingeprägt, dass das wahre Leben aus einem geradlinigen Lebenslauf und harter Arbeit besteht. Lange Pausen sind in ihrem Sein bisher nicht erlaubt gewesen. THE SHOW MUST GO ON, ALWAYS. Work-Life-Balance, schlecht. Work-Work-Balance, gut.
Zweifellos, heute fehlt ihr der Beifall des Publikums. Für sie ist es eine neue Herausforderung einfach auf dem Seil zu verweilen oder gar für einen Moment abzusteigen. Und auch sie wacht noch mit kleinen Panikattacken in der Nacht auf, da die Existenzfrage an ihren Nerven nagt und das Publikum nach einer Zugabe ruft.
Aber gleichzeitig lächelt sie viel mehr und erfreut sich wieder an der atemberaubenden Aussicht und den großen Kleinigkeiten in ihrem Leben. Dieses Innehalten kann also so schlecht nicht sein.
Tatsächlich sind wir so fantastische Lebenskünstlerinnen, weil wir uns die Zeit nehmen aufzutanken und innehalten. Wir brauchen diese kleinen Auszeiten, in denen wir nur wir selbst und nicht Mutter, Lebenspartnerin, Tochter, Schwester, Freundin, Managerin, Angestellte oder Nachbarin sind. Hier finden wir neue Inspirationen und erfahren das pure Glück. Sei es durch ein entspanntes Bad, einen Spaziergang alleine durch den Wald, eine tiefe Meditation, ein Glas Wein auf der Couch, oder beim kreativen Malen und Schreiben. Manchmal kann es auch was sehr Banales sein, was uns neue Freude bringt. Frau Dr. BWL schaukelt neuerdings. Und so sitzt die seriöse Akademikerin für fünf Minuten auf der Auswechselbank und lässt das Mädchen in ihr jauchzen und lachen und einfach wieder Kind sein. Wenn wir so den Tag beginnen, dann können wir nur Heldinnen unseres Alltags werden.
Nimm Dir also Deine Auszeit. Nimm Dir Deine eigene Zeit. Mache Halt. Entdecke, wer Du wirklich bist und was Dich begeistert und der Seiltanz ist nicht mehr nur ein akrobatischer Balanceakt, sondern ein befreiender Entdeckertanz für Dich.
Frau Dr. BWL ist sich sicher: Sie wird wieder auf ihrem Seil tanzen. Dann aber mit purer Freude und mit der richtigen Balance - und auf keinen Fall mit diesem ganzen Zirkus.
Yorumlar