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Die Geister, die ich nicht rief...

Aktualisiert: 17. Apr. 2023

Im weihnachtlichen Gammel-Look sitze ich vor dem Fernseher und zappe durch das Wintersportprogramm. Bei dem spannenden Staffellauf der Jahre bleibe ich hängen. Das alte Jahr trabt verschwitzt die letzten Tage herunter, um den Stab der Zeit an das neue Jahr zu übergeben. Das neue, frische Jahr wartet schon enthusiastisch darauf, 365 Tage einen Bestzeit-Sprint zu absolvieren.

Wieder ein Jahr, das der Zielgeraden entgegen läuft. Wieder treffen alt und neu, Ende und Anfang, Finale und Start aufeinander. Und wieder bin ich eher ein stiller Beobachter dieses Ereignisses, geplagt von diesem komischen Gefühl, dass der Stab der Zeit immer schneller weitergereicht wird.

Wer hat es diesen Jahren eigentlich erlaubt, dass sie aufputschende Dopingmittel nehmen dürfen, um in neuen Rekordzeiten sportlich durch die Tage, Wochen, Monate zu sprinten? Warum gibt es bei dieser speziellen Sportart eigentlich kein Timeout, um die Taktik an neue Gegebenheiten des Lebensspiels anzupassen? Wo ist der Schiedsrichter, der in seine Trillerpfeife pfeift und nur ganz kurz mal dieses Spiel gegen die Zeit pausiert?


Stattdessen ist es wieder soweit. Wie der Pink Panther frage ich mich, wer an meiner Uhr gedreht hat. In Gedanken noch beim Jahresrückblick des Vorjahres, reflektiere ich die Höhepunkte und Niederlagen, Freuden und Fehler, Glücks- und Unglücksfälle meines Jahres.

In meinem Wohnzimmer erscheinen die Geister, die ich eigentlich nicht rief. Passend zur Weihnachtszeit versammeln sich die Geister der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf meiner Gedanken-Couch.


Der Geist der Vergangenheit. Er ist der Geist des Abrechnens, der Buchhalter, der Jahresprüfer, der selbstbewusst meine Jahresbilanz in seinen Händen hält. In seinem Bericht präsentiert mir der gut gekleidete Herr die Fehler, die ich in diesem Jahr gemacht habe. Er rechnet die Ablehnungen zusammen, die ich erfahren musste. Er kumuliert die Diskussionen, die ich geführt habe und die Zeit, die ich der Angst, dem Kummer, den Sorgen und der Trauer gewidmet habe.

Dann tätschelt mir der alte Herr großväterlich den Arm und stellt diesen Schatten- die Sonnenseiten meines Jahres gegenüber. Er zeigt mir meine Highlights, bei denen manche für mich unvergesslich bleiben werden. Er präsentiert mir die Tage, an denen ich herzhaft gelacht und das pure Glück gespürt habe, an denen ich mich über Kleinigkeiten meines Lebens RIESIG freute, an denen ich liebte und geliebt wurde. Er berechnet die Zeit, die ich der Liebe, dem Glück, der Herzenswärme und der Freude widmete.

Und so sitze ich vor meiner Bilanz, meinem Yin und Yang der Emotionen und Gefühle des Jahres. Bin ich traurig, glücklich, zufrieden mit diesem Jahresergebnis? Was lief auf meiner Befragungsskala »sehr gut, gut, neutral, schlecht, miserabel«?


»Es ist egal wie Du Dich fühlst, es ist die Vergangenheit. Sie ist geschehen und kann nicht mehr verändert werden«, sagt der Geist der Gegenwart und setzt sich im Schneidersitz auf meine andere Seite. Der Geist der Gegenwart, der Genießer, der Naturverbundene, der Achtsame, der meditierend neben mir die vollkommene Ruhe und Wärme ausstrahlt. Ihn interessiert der Jahresbericht des Geistes der Vergangenheit nicht. Er akzeptiert das, was geschehen ist und möchte mich zum Leben im »Hier und Jetzt« animieren. Der Geist der Gegenwart, er ist der Yogi unter meinen Geistern, der Surfer auf meinen Tageswellen, der Wanderer in meinem Gedankenwald.

Er hilft mir dabei, Dinge loszulassen, zu akzeptieren, mich in den besinnlichen Tagen zu entspannen, einfach zu sein. Mit ihm erscheinen mir die negativen Seiten meiner Bilanz nicht mehr so dunkel. Denn er hat die Gabe, mir genau zu zeigen, welche Stärken sich durch diese schlechten Erfahrungen in mir entwickelt haben. Er ist der Motivator, der Lebenscoach, der Antreiber unter meinen Geistern. In seinem entspannten Outfit und mit seinem meditierendem »OM« hilft er mir, einfach bei mir anzukommen.


»Moment mal. Nix hier mit »OM«, meine Liebe«, zwitschert mir der Geist der Zukunft ins Ohr. Und schon hat sie sich die Jahresbilanz gegriffen und beginnt damit, diese zu analysieren. Schließlich muss diese im nächsten Jahr optimiert, das Zeitmanagement verbessert werden. Ich kann den Geist der Zukunft nicht so gut leiden, besonders nicht in dieser Zeit des Jahres. Sie ist die Disziplinierte, die Perfektionistin, die Planerin. Sie will immer gerne schon vier Schritte weiterdenken, die ersten Tage des Jahres schon durchplanen, Lebensstrategien entwerfen. Sie ist eine Kombination aus hektischer Karla Kolumna und strenger Märchen-Stiefmutter. Also genau das, was man in der Weihnachtszeit auf seinem Gedanken-Sofa nicht haben möchte. Sie nervt einfach mit ihrem Optimierungswahn. Wie sie mir meine, mit roten Anmerkungen markierte, Jahresbilanz zurückreicht und dabei zuckersüß strahlt.

»Daraus könnte man einige sehr gute Vorsätze für das kommende Jahr ableiten«, kichert sie und sieht mich mit einem sehr durchdringenden Blick an.


Der Geist der Vergangenheit schaut kritisch auf die verunstaltete Jahresbilanz. Er hält nicht viel von Spekulationen, von diesen vorhersagenden Analysen. Er widmet sich eher den realen Vergangenheitsdaten, fokussiert sich auf das Deskriptive.

Währenddessen spielt mein Geist der Gegenwart eine beruhigende Melodie auf seiner Ukulele und starrt eher durch die roten Anmerkungen hindurch als sich diese genauer anzusehen. Er weiß, dass nicht alles im Leben immer planbar ist, dass man Visionen und Ziele auch einmal an äußere Umstände anpassen muss.

Ich bewege mich rhythmisch zur schönen Melodie der Ukulele und tätschle nun enkelinnenhaft den Arm des Geistes der Vergangenheit, der traurig auf die entstellte Jahresbilanz schaut.

»Sie meint es nur gut«, sage ich zu dem alten Herr und schaue gleichzeitig mürrisch auf den Geist der Zukunft. Diese jedoch schaut genauso mürrisch und fordernd zurück.

Also gut. Ich betrachte die Anmerkungen des Geistes der Zukunft. Auch wenn sie so penetrant ist, meint sie es ja schließlich wirklich gut. Und tatsächlich, da sind ein paar sehr valide Punkte dabei, aus denen ich wirklich Vorsätze für das neue Jahr schmieden kann.


»Danke für diese tolle Aufbereitung meines Jahres«, sage ich zum Geist der Vergangenheit und freue mich, dass er Ordnung in meine Erfahrungen, Erlebnisse und Momente des letzten Jahres gebracht hat.

»Danke für die Empfehlungen für das nächste Jahr«, sage ich zum Geist der Zukunft und ich weiß, dass ich viele ihrer Punkte bei der zukünftigen Planung berücksichtigen werde.

»Sei mir jedoch nicht böse, lieber Geist der Zukunft. Aber jetzt kommen die Weihnachtstage, jetzt steht Besinnlichkeit und Ruhe im Vordergrund. Jetzt möchte ich pausieren. Deinem 30-Punkte-Verbesserungsprogramm widme ich mich dann im neuen Jahr«, beschließe ich.

»Kannst Du auch etwas Weihnachtliches auf Deiner Ukulele spielen?«, frage ich den Geist der Gegenwart.

Und natürlich kann der Geist der Gegenwart etwas Weihnachtliches spielen. Seine Musik hat etwas sehr Friedliches. Ich bemerke, wie sich auch der Geist der Zukunft der weihnachtlichen Melodie hingibt und langsam tanzt. Auch der Geist der Vergangenheit hat sich zurücklehnt, die Augen geschlossen und horcht der beruhigenden Weihnachtsmusik.


Und ich?

Ich wache schreckhaft auf. Im Fernsehen möchte Bill Murray gerade ein gebasteltes Geweih an eine Maus tackern lassen. Ich muss laut auflachen. Wenn der wüsste, was ihn noch erwarten wird.


Ach, diese Geister, die ich nicht rief.

Heute ist nicht alle Tage, sie kommen wieder, keine Frage.

 
 
 

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