Digital Detox: Ich bin dann mal weg...
- Held Stories
- 21. Nov. 2018
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 17. Apr. 2023
Bei einem Spaziergang kam ich an etwas sehr Befremdlichem vorbei. Da stand sie zwischen einer Parkbank und einer Bäckerei und schaute mich an. Ihr dünner Arm hing herunter, ihre pinke Hand bewegte sich im Wind hin und her. An ihrer gesamten linken Seite hatte sie kleine Schürfrisse, ihre gesamte rechte Seite war von grellem Graffiti besprüht. Sie wirkte müde, alt und verloren. Sie ist Teil meiner Kindheitserinnerung, doch für die nächste Generation wird diese alte Dame nur noch eine dekorative Rolle spielen. Die Telefonzelle.
Während die alten Schallplatten wiederbelebt werden und wir der knisternden Musik in unseren Schlag-, Latz- und Röhrenhosen zuhören, ist eines ganz gewiss. Zusammen mit der Videokassette und dem Walkman verabschiedet sich die Telefonzelle aus unserer Gesellschaft.
An ihre Stelle hat sich dieses schlaue Smartphone geschlichen. Dieses ultimative Überraschungs-Ei der digitalen Zeit, das Spiel und Spannung für uns bereithält.
Das Smartphone. Unser digitaler Dealer, der uns stetig einen neuen Push an wichtigen und unwichtigen Nachrichten, an bunten und bewegten Bildern schicken kann.
Unser Verwalter, der unsere Termine, Adressen, Notizen und Reisen organisiert und jeden Tag zu einer Mission (Im)Possible voller Ereignisse strukturiert.
Unser intimster Freund, mit dem wir sogar auf der Toilette twittern, gar telefonieren können.
Das Smartphone. Unser mobiler Fotograf, der in allen Filtervariationen Fotos von unseren schmackhaften Gourmet-Gerichten machen kann.
Unser Entertainer, der jede beunruhigend ruhige Minute mit Musik, Podcasts und Videos beschallen kann.
Ja, dieses Smartphone. Dieser kuschelige Freund, den wir irgendwie mehr an der Hand halten als unsere liebsten Menschen um uns herum.
Keine Frage, das Smartphone erleichtert uns das Leben. Wir müssen nicht mehr mit Kalender, Adressbuch, Spiegelreflexkamera, Tageszeitungen, Fotoalben, Briefmarken und Straßenkarte als Backpacker unseren Alltag bestreiten und schwitzend nach einer Telefonzelle Ausschau halten. Mit dem Smartphone gewinnen wir Leichtigkeit, Flexibilität und Ordnung.
Doch wann wird aus Leichtigkeit eher Abhängigkeit, aus Flexibilität eher Unzuverlässigkeit? Wann wird aus Ordnung eher Unordnung in unserer Gesellschaft?
Ich selbst habe mich schon dabei erwischt, dass ich auf meine Wetter-App gucke statt einfach aus dem Fenster zu schauen, dass ich Siri nach ihrer Meinung frage statt selbst über eine Antwort nachzudenken, dass ich meine Unpünktlichkeit mit einer schnellen SMS entschuldige.
Da liegt es nahe, mehr über dieses »Digital Detox« nachzudenken. Denn was spricht dagegen weniger als Smombie und wieder mehr mit geöffneten Augen auf das Leben zu schauen?
Ich hab das mal versucht mit diesem digitalen Entgiften.
In meiner eigenen, kleinen Version von »Ich bin dann mal weg« spiele ich den Hape Kerkeling des digitalen Entzugs. In meinem Alltag pilgere ich nun täglich an neuen, Smartphone-freien Stationen vorbei und finde es ganz spannend, mich aus den Fängen dieses schlauen Gerätes zu lösen. Für mich bedeutet Digital Detox dabei nicht, dass ich mich nun vollkommen vom digitalen Leben abschotte. Außerdem habe ich mir keine App geladen, die nun meine Zeit am Smartphone managen soll. Fand ich irgendwie ambivalent, eine Digital Detox-App zum digitalen Entgiften.
Stattdessen habe ich für mich selbst Situationen identifiziert, bei denen ich grundlos auf mein Smartphone gucke und dann entschieden, diese paar Minuten am Tag anders für mich zu nutzen. Hier sind meine neuen Detox-Leitsätze für den Alltag, die neuen Standby-Minuten meines Smartphones.
»Stop phubbing, start phausing...«
Das Phubbing-Phänomen. Man befindet sich in einer Gesellschaft, unterhält sich ausgelassen. Dann schaut man nach rechts. Man bemerkt, dass sich einer der Personen dem Smartphone zugewendet hat. Man erzählt weiter. Man schaut nach links und eine weitere Person zückt das Smartphone.
Man ist verwirrt, erzählt trotzdem weiter. Doch bei der dritten Person, die ihr Smartphone »nur ganz kurz« in die Hand nimmt, um »mal eben« was zu checken, halten wir dann doch inne. Ja, es ist vielleicht kein Action-Thriller, den man hier gerade erzählt. Aber interessanter als das Katzenvideo, das nun über unseren Tisch miaut, ist die Geschichte schon, oder?
Im Knigge der Neuzeit heißt dieses Verhalten phubbing, eine Zusammensetzung aus Phone (Telefon) und snubbing (brüskieren). Nicht mit mir! Ich sage: »Stop phubbing, start phausing!«. Richtig gehört. Ich mache jetzt lieber phausing, pausiere also meine Zeit am Phone.
Ich verbringe nun richtige Quality Time MIT meinen Freunden und OHNE dieses kleine Gerät. Wie? Ganz einfach. Statt Tisch, einfach Tasche. Statt laut, einfach lautlos. Statt on, einfach off. So schenke ich meinen Smartphone einen verfrühten Feierabend und meinen liebsten Menschen volle Aufmerksamkeit und Wertschätzung.
Erstaunlicherweise habe ich während dieser Zeit nichts an meinem Smartphone verpasst und gleichzeitig doch so viel gewonnen.
»I’m not blue, dabedidabedei...«
Wir leben in einer Zeit, in der die Farbe von zwei kleinen Häkchen unsere gesamte Kommunikation definiert. Blaue Häkchen weisen uns darauf hin, dass nun jeden Moment mit einer Antwort auf unsere Nachricht zu rechnen ist. Mit jeder Minute ohne eine Antwort, steigt unser Ärger auf den Empfänger. Schließlich hat er die Nachricht gelesen. Wir fordern Reaktion, Schnelligkeit, Antwort. Jetzt, sofort, nicht später.
Und auch als Empfänger wissen wir, dass die Häkchen nun auf blau stehen. Die blauen Häkchen sind die grünen Ampeln auf unserer Whats-App Rennstrecke. Ready, set, go! Die Gesellschaft erwartet die perfekte Antwortzeit von uns. Jetzt, sofort, nicht später.
Wann haben die blauen Häkchen die Macht über uns gewonnen? Vielleicht ist es nur ein Putschversuch auf diese Häkchen, aber ich lese und beantworte meine Nachrichten nun gebündelter. Ich weiß, in den Augen des Versenders ähnle ich nun dem langsamen Internet, das die Lieblingsserie ewig buffert; der defekten Rolltreppe, die uns zum Treppensteigen zwingt; dem verspäteten Zug, der uns am Bahnsteig unruhig warten lässt.
Aber für mich selbst heißt dies, dass ich meine Zeit selbst priorisiere, mich auf das konzentriere, was in dem Moment gerade wichtig ist. Man kann mich rebellisch nennen, doch ich sage zu diesen Häkchen einfach nur: »I’m not blue, dabedidabedei« und lächle verschmitzt.
»You never sit alone...«
Jeder kennt das Gefühl, wenn man im Restaurant auf die Freundin wartet und diese sich verspätet. Man liest exzessiv die Speisekarte, nippt nervös am schon bestellten Wasser und zählt die Restaurantgäste, die dieses Szenario für ein misslungenes Date halten. Man kann es ihnen nicht verübeln. Unser starrer, wartender Blick auf die Eingangstür; die aufkeimende Hoffnung, dass unsere Begleitung hereinkommt; die Enttäuschung, weil nicht die Freundin das Restaurant betritt. Alles klare Anzeichen, dass man von einem heißen Date sitzengelassen wurde. Um uns vor den mitfühlenden Blicken der anderen Restaurantgäste zu schützen, fliegen wir wie Motten der Neuzeit in das bläulich-kalte Licht unseres Smartphones.
Doch was ist aus dem entspannten Warten geworden? Wann wurden wir zu diesen Personen, die in einem Raum voller Menschen sitzen, aber diese gar nicht mehr wahrnehmen können oder wollen?
Neuerdings bin ich wieder weniger Motte und mehr Mensch. Ich warte nun einfach, beobachte die Umgebung, halte ein Pläuschchen mit dem Kellner. Man glaubt gar nicht, wie viel Neues man dadurch erfährt. Und ein guter Draht zum Kellner hat bei einem netten Mädelsabend tatsächlich noch nie geschadet.
»Open your ears...«
Der beste Freund des Smartphones ist der Kopfhörer. Smartphone und Kopfhörer sind das A-Team im Schutz vor der Außenwelt. Wir fahren U-Bahn und schotten uns mit Podcasts von den anderen Passagieren ab. Wir gehen ins Fitnessstudio und pushen uns mit Musik durch unsere Fitnesseinheit. Wir lassen uns beim alleinigen Spaziergang von diesem Dream Team begleiten, beruhigen, beschützen und bespaßen.
Mit Kopfhörern auf den Ohren müssen wir weder unsere Mitmenschen hören, noch auf unsere eigene, innere Stimme horchen. Wir stöpseln einen unserer Sinne einfach ab.
Ich wollte einmal herausfinden, was passiert, wenn ich meine Ohren wieder spitze. Und so fahre ich nun wieder U-Bahn ohne Kopfhörer. Dabei werde ich meist verwirrt von Kopfhörer-Passagieren und Senioren angeschaut, da sie mich nicht gruppieren können. Doch ich brauche kein Gruppenticket, ich genieße meine Einzelfahrt. Denn diese kurze Fahrt ist meine ganz eigene Zeit. Nur für mich.
»Ready for take-off... «
Es gibt nur noch wenige Orte, bei denen die Nutzung des Smartphones strikt verboten ist. In Sauna-Landschaften fühlen wir uns auf einmal noch nackter ohne unser Smartphone. Im Kino entdecken wir den Unterschied zwischen Leinwand- und Displaygöße. In der Kirche verbinden wir uns ohne LTE mit unserem Glauben. Im Flugzeug spüren wir nicht nur den Flug- sondern auch den Ruhemodus am eigenen Körper.
In diesen wenigen Oasen merkt man urplötzlich, wie angenehm ein paar Minuten ohne dieses Smartphone sein können. Keine Kommunikation. Ruhe. Innehalten.
Ich will mehr von diesen Oasen, schalte den Flugmodus nun einfach mal so ein. Sei es an einem entspannten Abend nach dem Yoga, an einem Sonntag in der Natur, bei einem romantischen Essen, mal ein ganzes Wochenende, beim Kaffee mit der Familie oder beim Schreiben. So habe ich meine kleinen Oasen gefunden, in denen ich einfach nur ich bin. Ich genieße diese Zeitfenster richtig. Ich atme viel freier und habe nicht mehr diesen Druck, ständig auf mein Smartphone gucken zu müssen.
»Wir müssen draußen bleiben...«
»Ich muss einmal auf Toilette«, sagte er, nahm sein Smartphone und war nie wieder gesehen. Dieses schlaue, kleine Gerät. Es hat es geschafft, sogar das stille Örtchen zu einem Dolby Surround Home Theater zu verwandeln. Man muss schon den Hut vor diesem Smartphone ziehen, denn bis hierhin haben es bisher nur wenige, leichte Lektüren geschafft.
Doch ich nehme meinen Partner nicht mit auf die Toilette. Also bleibt mein Smartphone auch draußen. Für mich darf das stille Örtchen noch das stille Örtchen bleiben. Manchmal auch der inspirierende Ort, an dem ich (auch) meinen Gedanken freien Lauf lassen kann. Aber nur damit wir uns verstehen, falls ich einmal einen Nobelpreis für eine fantastische Erfindung erhalten sollte, kam mir die Idee nicht auf der Toilette, okay?
Ja, dieses digitale Entgiften.
Es heißt für mich mehr Achtsamkeit für meine Zeit, mehr Selbstmanagement statt Fremdmanagement, mehr Träumen statt Twittern, mehr beruhigende Stille statt gestresste Kommunikation, mehr Selbstsein statt Selfie-Sein.
Manche Freunde schreiben mir mürrisch, dass ich nie erreichbar bin. Andere Freunde hinterlassen mir eine liebevolle Sprachnachricht, in der sie mir eine tolle Smartphone-freie Zeit wünschen.
Und ich? Ich denke entspannt: »Digital Detox: Ich bin dann mal weg«.
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